Unberechtigte Schuldgefühle überwinden – Darf man zur Ehe gezwungen werden?

Schuldgefühle sind ein Alarmsignal der Psyche. Sie deuten darauf hin, dass etwas am eigenen Verhalten nicht richtig ist. Sie dienen zur Selbstkorrektur und der Verhaltensregulierung. Wir alle lernen das Konzept Schuld in unserer Kindheit kennen. Vor allem in der religiösen Erziehung wird das größte Gewicht auf richtig und falsch gelegt. Muslimische Kinder lernen also schnell, dass Halal* und Haram** ein moralischer Kompass für die Lebensführung ist.

Nichtsdestotrotz erlebe ich es in Sitzungen immer häufiger, dass vor allem junge Menschen, von Schuldgefühlen zerfressen, kein normales und hoffnungsvolles Leben mehr führen. Richtig und falsch sind nicht nur religiöse Konzepte, sondern sie sind auch stark kulturell geprägt. Kommt beides zusammen kann es sehr schwer sein auseinander zu halten, was denn nun tatsächlich richtig oder falsch ist.

Ayla, 24, stellte sich letzten Sommer bei mir vor. Sie hatte mit Schlafproblemen und Konzentrationsschwäche zu kämpfen, die ihr nicht nur das Ende ihres Studiums erschwerten, sondern auch ihr soziales Leben stark beeinträchtigten. Schnell wurde klar, warum. Ihre Eltern oder genauer gesagt, ihre Mutter, drängten sie seit einiger Zeit zur Heirat. Der Sohn einer Bekannten hielt um ihre Hand an und ihre Mutter war Feuer und Flamme. Der Vater enthielt sich und hatte keine Probleme mit der Vorstellung, so lange der Mann muslimischen Glaubens war. Das Problem an der Sache war, dass Ayla seit einiger Zeit einen anderen Plan im Kopf hatte. Bevor sie sesshaft wird, so hat sie sich gedacht, will sie ihre Karriere aufbauen. Außerdem hatte sie nicht viel für den jungen Mann übrig. Ihrer Mutter zuliebe hat sie sich auf ein Treffen mit ihm eingelassen (denn man weiß ja nie), aber sie hatte keine Gemeinsamkeiten gefunden. Empfunden hat sie beim Treffen nichts, keine Sympathie, keine Anziehung, einfach nichts. Nicht mal freundschaftlich könnte sie sich den Kontakt mit ihm vorstellen. „Wir haben uns einfach nichts zu sagen“, betonte sie unter Tränen.

Ayla war eine selbstbewusste junge Frau, die genau wusste, was sie vom Leben wollte. Sie wehrte sich vehement gegen die Ehe mit ihm. Und so fing das Dilemma an. Ihre Mutter beschuldigte sie seither der Respektlosigkeit gegenüber ihren Wünschen und ihr Wohl. Es schien als würden sich die Wehwehchen und die Kränkeleien der Mutter seitdem häufen. Oft sagte ihre Mutter, „Gott wird dich dafür bestrafen, weil du nicht auf deine Mutter gehört hast“, oder „wegen dir werde ich früh sterben, du hast mir das Herz gebrochen.“

Wie reagiert man also in so einer Situation?

Ayla beschrieb ihre Kindheit und Jugend als sehr gradlinig. Sie hatte selten Konflikte zu Hause und fügte sich stets den Wünschen ihrer Eltern. Sie hatte, anders als viele andere Jugendliche, eine genaue Vorstellung von dem, was sie sich von ihrem Leben wünschte. Es schien fast so, als hätte sie sich das erste Mal gegen die Mutter gestellt, die sonst auch eine ziemlich dominante Rolle in ihrem Leben einnahm.

Schritt 1: Ayla musste erkennen, dass die Situation mit einer gewissen Objektivität betrachtet werden musste, um ihre emotionalen Konflikte zu lösen. Wer will schon seinen Eltern schaden, sie gar krank machen? Steht denn nicht vor allem die Mutter im Status der Religion an erster Stelle in der weltlichen Rangordnung? Aber sagte die Religion denn nicht auch, dass es vor allem bei der Eheschließung ohne das Einverständnis der Tochter nicht geht?

Diese zwei Komponenten musste Ayla einander gegenüber stellen, um Klarheit in ihren Gedanken zu schaffen. Rechte und Pflichten sind fair verteilt. Sie musste erkennen, zu was sie verpflichtet war, aber auch, welche Rechte ihr zustanden.

Schritt 2: Ayla erkannte, dass sie oft laut wurde, wenn das Thema eröffnet wurde. Meistens abends, wenn sie nach einem langen Tag wieder zu Hause war. Immer öfter verlor sie die Geduld. Kann man das als Fehler werten? Sicherlich. Selbst, wenn der Diskussionspartner unfair und manipulierend erscheint. Die Fassung zu verlieren ist niemals gerechtfertigt, selbst wenn es verständlich ist. Selbst, wenn man so weit gehen könnte, das als Fehler zu werten, muss man erkennen, dass der „Fehler“ nicht den Menschen repräsentiert. Nur weil ein Verhalten schlecht war, bedeutet es nicht, dass der Charakter schlecht oder gar verdorben ist. Fehler sind menschlich und ein Mensch, der behauptet keine Fehler zu machen, hat definitiv gelogen.

Schritt 3: Ayla plagte sich mit Selbstvorwürfen. Ständig dachte sie darüber nach, was sie falsch macht und ob sie nicht wirklich übereilt gehandelt hat, als sie sich gegen die Heirat stellte. „Vielleicht stelle ich mich einfach an? Vielleicht ist er tatsächlich gut für mich? Immerhin wäre meine Mutter sehr glücklich darüber.“

Ayla musste akzeptieren, dass es nicht der Fall war. Sie konnte und durfte bei großen Entscheidungen keine Abstriche machen. Die Ehe ist eine wichtige Lebensentscheidung und nur sie allein wird mit dem Konsequenzen leben müssen. Und wie fair wäre es gegenüber den zukünftigen Partner, wenn sie keine positiven Gefühle für ihn übrig hat? Sie musste akzeptieren lernen, dass sie die bestmögliche Entscheidung für sich und ihre Zukunft getroffen hat. Und daran musste sie sich stets erinnern, wenn die Schuldgefühle sie vom Schlafen abhielten.

Schritt 4: Schwächen und Fehler hat jeder. Niemand wird perfekt diese Welt verlassen, wenn er stirbt. Jeder wird mit einer Liste von Fehlern und Schwächen gehen. Aber man muss sich bemühen aus diesen Fehlern zu lernen. Ayla hat erkannt, dass sie an der Interaktion mit ihrer Mutter arbeiten musste. Sie versuchte ihr jedes Mal geduldig zu erklären, warum sie sich gegen die Ehe mit diesem Mann entschieden hat. Leider war es in ihrem Fall so, dass ihre Mutter sich weigerte eine Beratungssitzung mit ihr gemeinsam wahrzunehmen. Ayla musste erkennen, dass selbst wenn sie ihr bestes versucht, die andere Partei nicht unbedingt positiv darauf reagieren wird. Aber zumindest verstand sie nun, dass sie nichts Falsches getan hatte. Sie verschonte sich und alle Beteiligten Leid und Kummer. Niemand wäre längerfristig mit dieser Ehe zufrieden gewesen. Und wäre es zur Scheidung gekommen, hätte ihre Mutter ein viel größeres Problem gehabt.

 

Update: Ayla und ihre Mutter haben es am Ende geschafft auf einen Nenner zu kommen. Ayla ist inzwischen mit einem anderen Mann verlobt und ist sehr glücklich mit ihrer Entscheidung. Ihre Mutter und ihr zukünftiger Schwiegersohn sind ein Herz und eine Seele.

Namen und Alter wurden verändert. Dieses Fallbeispiel wurde mit schriftlichem Einverständnis der Klientin für die Veröffentlichung freigegeben. 

Halāl (arabisch حلال , DMG ḥalāl) ist ein arabisches Wort und kann mit „erlaubt“ und „zulässig“ übersetzt werden. Es bezeichnet alle Dinge und Handlungen, die nach islamischem Recht zulässig sind.

** Ḥarām (arabisch حرام, DMG ḥarām) ist ein arabisches Adjektiv, das im Islam alles dasjenige bezeichnet, was „verboten“ […] ist.

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