„Sprichst du Arabisch?“ – fragende hoffnungsvolle Augen blicken mich an.
Zum Alltag ist es nun schon geworden, das Hin das Her. Seit mehr als zwei Jahren steige ich morgens in den Zug, abends in den Zug. Zuhause – Universität – Zuhause. Das kann stressig sein. Beobachtet man die fließende Menschenmasse an Bahnhöfen, wird bemerkbar: Die einen laufen im schnellen Schritt, die anderen gehen gemütlich, wieder andere sitzen und trinken routiniert ihren Kaffee, während ihre Blicke mit und gegen den Strom gehen. Ab und an bleibt der Blick intuitiv an bestimmten Personen haften.
Meinen Direktzug habe ich heute verpasst, meine Freundin – glücklicherweise – auch. Das bedeutet für uns Umsteigen und Warten. Durch den Bahnhof schlendernd bemerke ich ein paar Jungen vor dem Fahrkartenautomaten. Meine Freundin möchte sich vom Bäcker etwas zu frühstücken holen und stellt sich an und ich wenige Schritte dahinter. Vom Augenwinkel sehe ich einen der Jungen auf mich zu kommen. „Sprichst du Arabisch?“ – fragende hoffnungsvolle Augen blicken mich an. Ich bejahe und helfe dem Jungen namens Ahmad mit der Fahrplanauskunft. Mit einem starken Akzent bringt er auf Deutsch ein nettes „Dankeschön“ hervor und geht davon.
4 Minuten noch. Durch die Menge eile ich. An den Menschen vorbei. Ausdruckslose Gesichter kommen mir entgegen. 3 Minuten. Plötzlich schaut ein scheinbar orientierungsloser Mann freudig überrascht auf, als ich ihm entgegen laufe. „Frag sie!“ höre ich ihn leise zu seiner Frau hinter sich sagen. So schnell wie ich an ihnen vorbeilaufe, kann sie nicht reagieren. Meine Beine tragen mich weiter, aber meine Augen bleiben an der kleinen Familie mit den zwei kleinen Kindern hängen. Abrupt bleib ich stehen und mache auf dem Absatz kehrt. Strahlende Gesichter, ihr Lächeln steckt geradezu an. Kurzerhand nehme ich mein Handy – 2 Minuten noch – öffne wie gewohnt die DB-App und frage nach dem Zielort. Leider ist ihr Zug vor wenigen Minuten abgefahren und sie müssen eine weitere Stunde auf den nächsten warten. Eine ganze Stunde warten! Bei 15 Minütchen warten ist meine Geduld bereits überstrapaziert. Sie jedoch nehmen es gelassen hin und verziehen keine Miene. Das Lächeln ist nach wie vor da. Sie bleiben also, ich jedoch fahre in mein wohliges Heim. Dieser Gedanke begleitet mich noch die ganze Strecke bis nach Hause.
Ahmad kommt mit seinen afghanischen Zimmergenossen zurück und mit einem weiteren Jungen im Schlepptau, ebenfalls Afghane. Er möchte nach Berlin. Gemeinsam mit Ahmad und seinen Freunden versuche ich ihm zu erklären wie er hinkommt. Erst auf Arabisch, dann auf Englisch und zuletzt per Handzeichen. Stumm lächelt dieser mich an und geht in Richtung Gleis. Auf ihrem Zimmer versuchen sie sich so gut es zu verständigen, da sie keine gemeinsame Sprache teilen, sagt Ahmad mir. Es funktioniert dennoch.
Fertig mit Shoppen, am Gleis warten wir auf den einfahrenden Zug. Fluchtartig steigen die Menschen ein und aus. Schnell habe ich einen Platz für meine Freundin und mich im Zug ergattern können. Neben mir im Gang stehen Englisch sprechende Männer. Der eine von ihnen scheint sich über die Richtigkeit seines Zuges, der ihn zum angestrebten Ziel führen soll, zu vergewissern. Nur nebenbei bekomme ich etwas mit. Im Gespräch mit meiner Freundin vertieft, werde ich auf Arabisch angesprochen. Es ist derselbe Mann. Ich erfahre, dass er neulich aus Eritrea nach Deutschland gelangt ist. Der arabische Sprachraum scheint doch etwas größer zu sein als ich gedacht hätte. Wieder etwas dazu gelernt.
Ich sitze im Zug, wieder einmal. Hochkonzentriert lese ich in der Novelle von Robert Musil, um die Fahrtzeit nicht zu vergeuden. Neben mir sitzen ein junger Mann und eine junge Frau und unterhalten sich auf einer mir unbekannten Sprache. Telefonklingeln. Mein Onkel. Ich wechsle ein paar Worte mit ihm auf meiner Muttersprache, merke dabei wie meine Fahrtgenossen mich von der Seite beobachten. Als ich auflege, sprechen sie mich an – diesmal in arabischer Sprache. Nach einem kurzen Wortwechsel bin ich wieder in meiner Novelle vertieft. Der junge Mann, der vorher aufgestanden war und für kurze Zeit verschwunden ist, kommt zu mir und bittet mich um Hilfe. Eine alte Dame steht auf den Treppenstufen und weiß nicht wohin. Sie spricht kein Deutsch. Ein älteres deutsches Ehepaar vor ihr sitzend versucht zu helfen. Zusammen gehen wir auf die Dame zu. Er spricht mit ihr auf seiner Sprache, wendet sich zu mir und fragt mich etwas auf Arabisch. Das Ehepaar sagt mir die Frau müsse die nächste Station aussteigen und auf Gleis 16, um zu ihrem Ziel zu gelangen. Ich übersetze auf Arabisch. Der junge Mann gibt es auf einer anderen Sprache weiter. Etwas verwirrt, aber belustigt fragt mich das Ehepaar: „Was sprechen Sie denn für eine Sprache?“ Ich kläre auf: „Ich verstehe Sie, Er versteht mich und die alte Dame versteht nur ihn!“ Im Waggon schallt ein heiteres Lachen auf und ich erblicke viele angenehm amüsierte Gesichter, die dieses Spiel mitverfolgten.
„Du bist Syrerin, stimmt’s? Habe ich direkt erkannt. Die Erste, die ich in Deutschland treffe“. Ich muss mir ein Lachen verkneifen und schmunzle nur. Vor wenigen Jahren hätte mich diese Aussage nicht gewundert. Es hat etwas Trauriges an sich. „Und wann bist du hier her gekommen?“ Diese Frage wird mir oft gestellt. Verdutzt schaut er mich an als ich antworte, dass ich von Geburt an in Deutschland lebe und hier aufgewachsen bin. Mein guter syrisch-arabischer Dialekt habe ihn getäuscht, meint er. Dieselbe Reaktion wie jedes Mal. Wo habe ich denn so gut Arabisch sprechen gelernt?
Am Gleis stehend und mir die Füße abfrierend, warte ich auf meine Bahn. Verspätung, naja nichts was ich nicht hätte vorhersehen können. Eine vierköpfige Familie mit Reisegepäck kommt die Treppen herauf geeilt. Ihnen voran ein deutsches Ehepaar. „The train has delay“. Aufatmen. „Is that the train to…?“ Die Reisenden möchten sicher gehen. Ein sich ständig wiederholendes Frage-Antwort-Spiel, die Verständigung klappt nichtsdestotrotz. Gerührt und ergriffen von der großen Hilfsbereitschaft meiner deutschen Mitbürgerinnen und Mitbürger beobachte ich die Situation aus einer gewissen Entfernung. Sie werfen mir flüchtige Blicke zu. Ob ich helfen soll? Nein, nur ungern unterbreche ich diese Szenerie. Es gibt sie reichlich, mehrere solcher Situationen haben es bewiesen, teilnahmsvolle und mitfühlende Helfer.
Es gibt aber auch umgekehrte Fälle, in denen Schutzsuchende die Helferrolle einnehmen: Eines Sonntags – wieder am Bahnhof, wohlgemerkt – bemerke ich am Gleis ein Mädchen. Um die 15 Jahre alt, schätze ich das Alter ein. Es fragt einen Mann nach dem Fahrplan. Anscheinend kann er ihr nicht weiterhelfen, denn sie läuft mir entgegen. Sie muss zum Gleis gegenüber, ich schaue auf die Uhr und dränge sie dazu sich zu beeilen, denn der dastehende Zug könnte jeden Moment abfahren. Sie eilt die Treppen runter, doch ich sehe schon wie der Zug abfährt. Das Mädchen muss wahrscheinlich unten sein. Ich gehe sie suchen, denn ihr Smartphone habe sie verloren, wie sie mir zuvor erzählt hat. Unten in der Menge finde ich sie wieder. In Tränen aufgelöst. Ich biete ihr wieder an ihre Eltern mit meinem Telefon zu kontaktieren, sie lehnt abermals ab, bis ich sie überreden kann und sie ihre Mutter anruft. Die Tränen fließen. „Keine Sorge“, beruhigt das Mädchen ihr Mutter, „Hier sind so viele Menschen die mir helfen!“ Sie erzählt ihr, wie zwei Flüchtlinge sie zum Bahnhof begleitet haben, als sie den Weg alleine nicht gefunden hat. Gerne hätte ich das miterlebt. Wir warten zusammen auf die Mutter, ich drücke ihr ein Snickers in die Hand und verabschiede mich.
Eine Gruppe junger Männer erblickt Ahmad und fragt ihn nach dem Weg. Er kommt mit der Gruppe zu mir und verweist auf mich. Ich bin neuerdings die Bahnauskunft. Sie zeigen mir eine Adresse. Gebannt schauen mich alle an und ich erkundige mich schnell welchen Zug sie nehmen müssen unf führe sie dorthin. Ich wünsche Ahmad, welcher ohne Eltern nach Deutschland geflohen ist, noch alles Gute und steige in den Zug.
Unten an der Treppe stehe ich, auf den Zug wartend. Oben am Gleis ist es eisigkalt. Es dämmert bereits. Einige Menschen laufen den Bahnhof auf und ab. Mein Blick ruht leer auf der Wand mir gegenüber. Müde und erschöpft vom Tag, nehme ich nicht viel von der Umgebung wahr und bete nur, dass die Bahn wenigstens einmal pünktlich sein kann. Ein kleiner arabischer junge läuft vorbei, schaut mich verlegen an, zögert, aber fragt doch noch: „Bist du Araberin?“ Wieder bei voller Konzentration bestätige ich seine Vermutung. Sicherlich möchte er nach dem Weg fragen oder braucht meine Hilfe. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragt der Kleine mich zu meiner Überraschung. Im ersten Moment sieht man mir die Verwirrung im Gesicht an, im zweiten Moment die Entzückung. Ich muss lachen. Er versteht nicht direkt, dann schon. „Sie haben so hilflos geguckt.“ Beide lachen über das kleine Missverständnis. Ich bedanke mich.
Lange danach noch bin ich über diese Erlebnisse sehr nachdenklich gestimmt.