„Niemals Gewalt!“ oder „Mir hat es auch nicht geschadet!“

[:de]Ein Gastbeitrag von Nesrin Chibli

In ihrer weltbekannten Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels 1978 erzählte die Kinderbuchautorin Astrid Lindgren eine Geschichte, welche mich beim ersten Hören emotional total bewegte und mein Denken revolutionierte.

Ich möchte diesen Artikel mit genau dieser Geschichte einleiten:

„Jenen aber, die jetzt so vernehmlich nach härterer Zucht und strafferen Zügeln rufen, möchte ich das erzählen, was mir einmal eine alte Dame berichtet hat. Sie war eine junge Mutter zu der Zeit, als man noch an diesen Bibelspruch glaubte, dieses „Wer die Rute schont, verdirbt den Knaben“.

Im Grunde ihres Herzens glaubte sie wohl gar nicht daran, aber eines Tages hatte ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient hatte, die erste in seinem Leben. Sie trug ihm auf, in den Garten zu gehen und selber nach einem Stock zu suchen, den er ihr dann bringen sollte. Der kleine Junge ging und blieb lange fort. Schließlich kam er weinend zurück und sagte: „Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.“

Da aber fing auch die Mutter an zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mit den Augen des Kindes. Das Kind musste gedacht haben, „Meine Mutter will mir wirklich weh tun, und das kann sie ja auch mit einem Stein.“

Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme, und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dann legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche, und dort blieb er liegen als ständige Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde selber gegeben hatte: „NIEMALS GEWALT!

 

Zu diesem Zeitpunkt herrschte in Deutschland noch das Elternrecht auf körperliche Züchtigung.
Lindgren sprach 1978 zu einem sehr konservativen Publikum.
Die Vorstellung von gewaltfreier Erziehung bedeutete für die absolute Mehrheit der Eltern von damals, dass sie undisziplinierte Kinder großzogen.

Seit dem Jahr 2000 haben die Kinder in Deutschland das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung.
Im BGB heißt es außerdem, dass jede körperliche Bestrafung, seelische Verletzung und andere entwürdigende Maßnahmen unzulässig sind und strafrechtlich angezeigt werden können.

2015 verzeichnete eine polizeiliche Kriminalstatistik weit über 3400 Fälle von Kindesmisshandlungen. Wir können alle davon ausgehen, dass die Dunkelziffer weit über diese Zahl liegt.

Muster erkennen – Kreisläufe durchbrechen

Viele Mütter und Väter wünschen sich ein gewaltfreies Leben für ihre Kinder und klagen darüber, dass sie es nicht schaffen, ihre Wut bei sich zu behalten und diese nicht auf das Kind zu übertragen, wenn dieses einen „Fehltritt“ begeht.
Leider gehört unsere Generation noch zu den Menschen, welche die ein oder andere Tracht Prügel kassieren musste.
Wir wurden angeschrien.
Erpresst.
Man bestrafte uns mit dem Liebesentzug und anderen verstörenden Methoden, welche unsere Seele bis heute prägen.

Die Emotionen und Erinnerungen an diese Momente sind ziemlich laut in unserem Kopf, wenn es in einer Alltagssituation darum geht, zwischen Gewalt und gewaltfrei zu entscheiden.
Was aber tut ein Mensch, der selbst nur Gewalt als Kommunikationsmöglichkeit kennengelernt hat?
Kann er diesen Kreislauf brechen?
Ja, kann er.
Wo ein Wille ist, da ist ein Weg.

Kommunikation auf Augenhöhe statt Liebesentzug

Hilfreich ist zu wissen, welche Folgen Gewalt gegen Kinder hat.
Wenn ich mir vor Augen halte, dass mein Kind Vertrauensverluste in seiner Beziehung zu mir durchmachen muss oder Angst und Panik lebt, wenn ich es schlage, dann kann dieses Wissen mich davor bewahren, meiner Wut freien Lauf zu lassen oder sie in Form von Gewalt an meinem Kind auszulassen.
Bei gewaltfreier Erziehung geht es aber nicht darum, dass wir als Eltern keine Wut, keinen Ärger und andere eher bedrückende Emotionen durchleben dürfen.
Im Gegenteil.
Wenn mein Kind mich durch eine bestimmte Handlung wütend macht oder traurig stimmt, dann ist es wichtig, dass ich ehrlich mit meinem Kind darüber rede.
Ich kommuniziere meine Gefühle auf Augenhöhe.

„Weißt Du mein Schatz, das was Du gerade getan hast, hat mich traurig gemacht. Ich wünsche mir, dass dies nicht ein weiteres Mal geschieht.“

Erst vor einigen Tagen hat sich mein Sohn von meiner Hand losgerissen und wollte über eine stark befahrene Straße rennen, weil dort ein Feuerwehrauto auf der anderen Straßenseite stand.
Meinen Schrei hat man eventuell bis ans andere Ende der Stadt gehört. In meinem ganzen Leben hatte ich nicht so eine Angst wie in diesem Moment. Ich nahm ihn an die Hand, ging in die Hocke, sodass wir einander in die Augen blickten und sagte ihm in einer sehr deutlichen Sprache, dass ich sehr große Angst hatte und mich diese Aktion wütend gemacht hat. Gleichzeitig verstehe ich aber auch, dass seine Faszination dem Feuerwehrauto gegenüber sehr groß war.
So groß, dass sie ihn die Regel vom Straßenverkehr und der Ampel vergessen ließ.
Wir umarmten einander. Ich sagte ihm, dass ich ihn lieb habe und er gab mir einen Kuss.

Es ist wichtig, dass wir offen und direkt mit unseren Kindern über unsere Gefühle sprechen.
Wir müssen mit unseren Kindern reden, so wie wir wollen, dass man mit uns redet.

Perspektivwechsel als Hilfsmittel

Es geht also nicht darum, durchgehend glücklich und sorgenfrei zu sein.
Das wäre nicht realistisch.
Das können wir – so Gott will –  im Paradies, aber nicht im Diesseits.

Natürlich ist es total schwierig, von alten Mustern loszulassen. Doch manchmal genügt es einfach, mal den Blickwinkel zu wechseln.
Würde ich mit meinem Partner reden so wie ich mit meinem Kind rede? Keine von uns sagt zu ihrem Ehemann: „Wenn du heute nicht den Müll runterbringst, dann schläfst Du ihm Wohnzimmer.“
Warum aber fällt es uns so leicht, unsere Kinder zu erpressen?
„Wenn Du nicht sofort kommst, dann kannst Du Dir den Spielplatzbesuch heute abschminken.“
Welche Werte vermitteln wir unseren Kindern mit solchen „Wenn – Dann“ Methoden?

Gewaltfrei bedeutet natürlich nicht eine Kindheit ohne Regeln oder Grenzen.
Mein Kind darf mit seinen zweieinhalb Jahren nicht alleine die Straße überqueren.
Das ist eine Regel, eine Grenze an die er mehrmals täglich stößt.
Dafür darf er auf den Gehwegen, im Wald, in Parks oder dem Supermarkt frei rumrennen und die Gegend erkunden.
Dafür weiß er, dass ich es gern habe, wenn er neben mir steht, während ich an der Kasse stehe und der Verkäuferin den geforderten Betrag zahle.
Es gibt Tage – diese besonderen Tage im Monat – an denen ich wirklich keine Lust auf Rollenspiele habe und meine Kraft auch nicht zum Toben ausreicht.
Noch bevor mein Kind sich fragt, was denn heute anders sein kann als gestern, warum Mama so schlechte Laune hat, nicht mit mir spielen möchte, erkläre ich ihm, dass es mir nicht gut geht, ich Schmerzen habe und schlage vor, dass wir gemeinsam eine Aktivität finden, die auf die Bedürfnisse aller Beteiligten eingeht.

Die Macht der Worte

Wenn ich nur einen Tipp geben müsste, um von der Gewalt loszulassen und eine gewaltfreie Erziehungsmethode im Zusammenleben mit den Kindern anzuwenden, dann würde ich den Dialog nennen.
Wir unterschätzen die Macht der Worte.
Ein Gespräch auf Augenhöhe kann so viel mehr bewirken, als die Auszeit auf dem „Naughty-chair“ oder der stillen Ecke. Auch wenn manche Eltern es schaffen, ihren Kindern nach einer solchen Strafmaßnahme noch in die Augen zu blicken und die Kinder ihnen eine Umarmung schenken; ein Stück Vertrauen, ein Stück Geborgenheit, ein Stück Sicherheit wurde dieser Eltern-Kind-Beziehung entzogen.
Ein Stück, das man sehr sehr schwer wieder ersetzen kann. Denn auch wenn die Kinder so tun als wäre es vergessen. Nichts ist vergessen.

Hat es uns geschadet?

Das beste Beispiel dafür sind wir.
Dass uns die Gewalt, die wir erlebt haben bis heute prägt und geschadet hat, zeigt sich nämlich in den Situationen, in denen wir anfangen, mit lauter Drohungen um uns zu werfen und eine Erpressung hinter der anderen aussprechen.
Unsere Reaktion basiert nicht auf einer Aktion, welche unser Kind durchgeführt hat, sondern auf dem, was wir als Kinder erlebt und in unserem Unterbewusstsein abgespeichert haben.
Deshalb ist der Satz „Mir hat es auch nicht geschadet“ die größte Lüge, die man sich selbst auftischen kann. Ich habe oft das Gefühl, dass Eltern sich damit das Gewissen beruhigen wollen.
Ganz tief im Inneren wollen sie selbst keine Gewalt anwenden. Schließlich kennen sie den Schmerz vom Liebesentzug und die Angst als man im Zimmer eingesperrt wurde sitzt immer noch in einem fest.

Ich glaube, die absolute Mehrheit der Eltern, die bis heute Gewalt in ihrer Erziehungsmethode anwenden tun dies aus Liebe zum Kind.
Das klingt nicht nur verrückt – das ist der Wahnsinn unserer Gesellschaft.
Kinder haben sich an ein bestimmtes Muster anzupassen.
Sie sollen gehorchen und Ja-Sager werden.
Diese Gewaltmaßnahmen soll aus ihnen gute Menschen machen.
Klingt ziemlich paradox oder?

Sei Du ehrlich.
Sei Du hilfsbereit.
Sei Du gerecht und ein liebevoller Mensch.
Lebe Du die Milde vor.
Sei achtsam Deiner Umgebung gegenüber.

Kinder gucken sich alles ab.
Wir müssen es schaffen gewaltfrei auf Konfliktsituationen zu reagieren.

Perfekte Elternschaft als Ziel?

Das klingt alles ziemlich nach perfekter Elternschaft, die ich hier predige.
Dabei geht es mir nicht um die Perfektion.
Absolut nicht.
Ich glaube ehrlich gesagt nicht an eine einfache und stressfreie Elternschaft.
Ich strebe sie auch in meinem Mamasein nicht an.
Das würde nur unnötigen Stress mit sich bringen und mich sowie meine Familie unter ständigen Druck setzen.
Alles was mir in meiner Rolle als Mama wichtig ist, ist eine gesunde Beziehung zu meinem Kind.
In dieser Beziehung lachen und weinen wir.
Wir sind wütend und glücklich.
Unsere Stimme ist mal ganz ruhig und sanft, während sie in anderen Situationen klar und deutlich sein darf.
Die Hauptsache ist, dass wir in Beziehung sind.
Dass wir beide gleichwertig sind.
Das Wort meines Kindes hat die gleiche Wichtigkeit wie mein Wort.
Und sollte es mal dazu kommen, dass unsere Interessen und Bedürfnisse auseinander gehen – was ganz oft geschieht – dann reden wir darüber.
Beziehung statt Erziehung.

Die Würde aller Menschen achten

Es gibt unzählige Beispiele aus dem Quran und der Sunnah, die an ein barmherziges und mildes Miteinander appellieren.
Eines der wichtigsten Gebote im Islam ist das Achten der Würde des Menschen.
Welche Würde achten wir, wenn wir unsere Kinder anschreien, schlagen, demütigen und ihnen Liebe entziehen?
Würdest Du deinem Kind drohen, wenn der Prophet zwischen euch stehen würde?
Warum befolgen wir diese Verhaltensregeln im Umgang mit allen Menschen – ja sogar mit Personen die wir eigentlich nicht mögen – nur wenn es um unsere Kinder geht, sind wir erbarmungslos und lassen uns von unserem Bedürfnis nach Machtausübung und Gehorsam uns gegenüber treiben?
Unsere Kinder sind die Menschen, die wir am meisten lieben.
Für die wir uns das Beste wünschen.
Gleichzeitig sind unsere Kinder die Menschen, denen wir am meisten schaden, wenn wir ihnen gewaltvoll begegnen.

Ich möchte, dass mein Kind mich liebt und sieht.
Als seine Vertrauensperson.
Als seine Mama.
Bei mir soll es sich geborgen und sicher fühlen.
Niemals soll mein Kind Angst haben vor mir.

Niemals soll mein Sohn glauben, ich würde ihm wehtun wollen.
Niemals Gewalt!

– Nesrin Chibli[:]

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