Willkommen im Postkolonialismus 2.0

Um dafür zu sorgen, dass Bürger*innen der Bundesrepublik sich für österreichische Politik interessieren, müssen zwei Dinge passieren: 1. Ein Video wird geleaked, in dem der Vizekanzler Österreichs unaufgeregt erklärt, wie das Parteifinanzierungsgesetz am besten umgangen wird 2. Der Nationalrat (das österreichische Pendant zum deutschen Bundestag) verabschiedet ein Gesetz, welches das Tragen eines Kopftuchs von muslimischen Schülerinnen an Grundschulen verbietet.
Weil Deutschland besessen ist vom muslimischen Kopftuch, wird nun auch hierzulande fleißig diskutiert, ob ein solches Gesetz an deutschen Grundschulen gelten solle. (siehe Die Zeit vom 18. Mai.)
In diesem Artikel wird bewusst darauf verzichtet, inhaltlich in die gegenstandslose und symbolpolitische Diskussion um ein Verbot an Volksschulen einzusteigen, welches ohnehin mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit vor dem Verfassungsgerichtshof, aufgrund der eindeutigen Verletzung der Religionsfreiheit, nicht standhalten wird. Vielmehr geht es darum einen Blick hinter die Diskussionen zu werfen und sich bewusst zu machen, mit welchen Motivationen und Strukturen Debatten über die Gestaltung muslimischen Lebens in Deutschland/Österreich geführt werden. Zivilgesellschaftliche Akteure, Politiker*innen sowie Wissenschaftler*innen bedienen sich an kolonialistischen Argumentationsstrukturen, um die Souveränität und Autonomie (sichtbar) muslimischer Frauen einzuschränken.

This woman that sees without being seen frustrates the colonizer. There is no reciprocity.

Frantz Fanon- A Dying Colonialism S.44

In der deutschen Politiklandschaft der letzten Jahre gibt es zwei Konstanten: Merkel und die Kopftuchdebatte.
An der Goethe-Universität in Frankfurt wird über das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung diskutiert, die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verbietet einer niqabtragenden Studentin die Teilnahme an Veranstaltungen und in Berlin kämpfen sichtbar muslimische Frauen dafür ein Referendariat beginnen zu dürfen.
Das übermäßige Interesse am muslimischen Kopftuch wird meist mit Bestrebungen der Frauenemanzipation begründet. Grundsätzlich herrscht das Narrativ vor, dass die rückständige muslimische Frau endlich von dem unterdrückerischen Stoff und den damit verbundenen patriarchalischen Strukturen befreit werden solle. Die muslimische Frau kommt hierbei jedoch nicht zu Wort.
Diese nie endende Debatte deckt nicht nur tiefgreifende rassistische Denkstrukturen und Ressentiments gegenüber als muslimisch markierten Menschen auf, sondern verdeutlicht vor allem die Rückkehr kolonialistischer Legitimationsmuster.

Postkolonialismus 2.0

Was war der Kolonialismus nochmal? Eine einfache historische Definition lautet nach Philip Curtin: „die Beherrschung durch ein Volk aus einer anderen Kultur“. Weil die Welt aber nicht einfach erklärt werden kann müssen hier noch einige Dimensionen ergänzt werden. Ziel der Kolonialmächte war es nicht nur zu beherrschen, sondern das kolonisierten Volk ihrer Entwicklung zu berauben, sie fremdzusteuern und sie wirtschaftlich auszubeuten. Die Fremdheit zwischen Herrschenden und Beherrschten ist hier ein wichtige Grundlage, die dafür genutzt wurde, um die suggerierte Überlegenheit der Kolonialmächte aufrechtzuerhalten.
Historisch war der Kolonialismus und somit die Zeit europäischer Weltbeherrschung Ende des 20.Jahrhunderts abgeschlossen.
Fremdbestimmung, Ausbeutung und kulturelle Ent-und Aneignung jedoch fanden kein Ende, weshalb für diese Phänomene, die nach „offiziellem“ Ende der Kolonialzeit erscheinen, das Wort des Postkolonialismus verwendet wird.(Osterhammel 1995, 114)
Wenn von Postkolonialismus 2.0 gesprochen wird, soll verdeutlicht werden, dass das Territorium, auf dem kolonialistische Strukturen sichtbar werden, jetzt nicht mehr der afrikanische oder lateinamerikanische Kontinent ist. Der Schauplatz postkolonialistischem Denkens sind nun die Demokratien Westeuropas.

Die Andersartigkeit muslimischer Frauen

Aber woher kommt die unverhältnismäßig hohe Motivation die muslimische Frau zu befreien? Edwards Saids Konzept vom „konstituierten Anderen“ könnte hier Abhilfe schaffen. Aufgrund ihrer vermeintlich offensichtlichen Andersartigkeit werden muslimische Frauen als „die Anderen“ wahrgenommen, die in Abgrenzung zu der eigenen deutsch/österreichischen Kultur existieren. Die Frage nach der muslimischen Frau ist beispielsweise für die geteilte deutsche Gesellschaft identitätsstiftend, denn trotz der großen Differenzen zu sozialen oder ökonomischen Fragen, findet die deutsche Mehrheitsgesellschaft Einigkeit darin, für ihre gemeinsamen Werte wie Vernunft, Rationalität und Freiheit einzustehen.
Im Gegensatz dazu existiert der Islam, welcher mit Rückständigkeit und Tradition in Verbindung gebracht wird, was wiederum Unvernunft verkörpert. Im Zuge dessen werden muslimisches Leben im Allgemeinen und muslimische Frauen im Besonderen politisiert und ihrer Individualität beraubt. Sie besitzen keinen historischen Charakter mehr, sondern sind nur noch als Teil des „anderen/fremden“ muslimischen Kollektivs zu verstehen. Dieser Prozess der Vereinheitlichung muslimischen Lebens kann im schlimmsten Fall zur Entmenschlichung führen.

Im Zentrum kolonialistischen Denkens steht die Annahme und Verallgemeinerung, dass die Andersartigkeit von Menschen, die als nicht-europäisch gelesen werden, sich vor allem in ihren geistigen Fähigkeiten und Werten widerspiegelt (siehe Osterhammel 1995, 113). In dieser Denkmanier sind muslimische Frauen von Natur aus unmündig. Dieser Feststellung folgt dann die Forderung, dass muslimische Frauen Führung bedürfen, um Vernunft/Emanzipation/… zu erlangen.

Die „orientalische Frau“

Im Fall von muslimischen Frauen dominieren in der Bundesrepublik immer noch Fremdzuschreibungen, die von nicht-betroffenen Menschen konstruiert werden. Dass über muslimische Frauen viel gesprochen wird, sie selbst aber nicht zu Wort kommen können, ist eine Sache – aber, dass sichtbar muslimischen Frauen Authentizität und Souveränität aufgrund ihrer zugeschriebenen Rückständigkeit verwehrt wird, nimmt ein immer größer werdendes Ausmaß an.

An diesem Punkt lassen sich die kolonialistischen Legitimationsstrukturen am besten identifizieren, denn zugeschriebene Rückständigkeit und die „Beihilfe“ zur Emanzipation waren bereits Ende des 20. Jahrhunderts Floskeln, die verwendet wurden, um Macht- und geopolitische Interessen zu verfolgen. In unserem Fall geht es vermutlich nicht mehr um territoriale Bestrebungen, aber um Deutungshoheit und Herrschaft.
Die „orientalische Frau“ aus dem Gefängnis der Unterdrückung zu befreien ist weiterhin ein beliebtes Mittel, um Unterwerfungspolitik zu legitimieren (siehe Keiler 1997, 232ff.). Hier geht es also darum, welche Wahrheit produziert wird, die dann Grundlage für die Durchsetzung von Herrschaft und Autorität ist.

Begünstigt wird die Produktion von vermeintlicher Wahrheit dadurch, dass muslimische Frauen, ähnlich wie andere für Diskriminierung anfällige Gruppen, wie beispielsweise Menschen mit Behinderung, in der Politiklandschaft unterrepräsentiert sind. Wenn also, wie im Fall Österreichs, Gesetze zum muslimischen Kopftuch erlassen werden, dann sind es nicht betroffene Menschen, die an diesen Prozessen beteiligt sind, sondern Männer und Frauen, die die Auswirkungen dieser Gesetze nie am eigenen Leib erfahren müssen, die nicht von Gerichtstermin zu Gerichtstermin eilen müssen, um ein Praktikum bei der Staatsanwaltschaft absolvieren zu dürfen.

Es geht also weder um die Befreiung noch um den Schutz von Frauen. Wenn hier eine pervertierte Art von Feminismus gepredigt wird, dann ein imperialistischer Feminismus, der sich aus Hegemoniestreben und der Durchsetzung eigener ideologisch und normativ fragwürdiger Grundsätze zusammenstellt. Diese Art von Herrschaft ist weder demokratisch noch partizipativ und hat wenig mit verbindlichen Normen in Form von Gesetzen zu tun, sondern kann eher als Verhaltensregel verstanden werden, die nur asymmetrisch von muslimischen Menschen eingehalten werden muss.
Frantz Fanon erklärte schon in den 60ern, dass die verhüllte Frau dem Kolonialherr Angst mache. Sie sehe ihn, während er sie nicht vollständig sehen könne. Hier finden wir eine Lücke, an die wir anknüpfen können, denn aus dieser Position sind wir am mächtigsten. Lasst uns weiterhin furchteinflößend sein.

Falls euch das Thema interessiert hier ein paar Literaturvorschläge für euch:
Frantz Fanon- A Dying Colonialism
Aziz Al- Azmeh- Die Islamisierung des Islam
Renate Kreise – Der Kampf um die Frauen. Politik, Islam und Gender im Vorderen Orient

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