Kaum zu fassen!

Ich hab’s getan! Ich kann es nicht fassen, nicht verstehen und das Schlimmste: ich kann es nicht mehr rückgängig machen! Ich habe wirklich Haustiere zugelassen. Zwei Kaninchen.
Wir haben die Tiere jetzt schon einige Tage. Zuerst stand der Käfig im Kinderzimmer, aber da sie nachts „gruselige“ Geräusche machen, stehen sie jetzt in meinem Arbeitszimmer. Oder sollte ich es schon „unseres“ nennen?
Zwischen Nähmaschinen und Stoffrollen stehen jetzt Säcke voller Stroh, Heu und allem möglichen Zubehör zum Wohlbefinden der kleinen Ratt… äääh Hasen.
Nur um mein Wohlbefinden scheint sich gerade niemand zu sorgen.

Was hat mich bloß dazu getrieben? Wie haben es die Mädels geschafft mich zu überzeugen? Ich war doch absolut dagegen! Und ich weiß warum! Wie konnte das passieren? Ich hab als Kind auch kein Haustier bekommen. Interessiert bis heute niemanden und man sieht es mir nicht an. Oh, Mann. Was hab ich mir bloß angetan?
„Mama, guck mal wie süß sie sind! Ich hole ihnen noch frische Karotten aus dem Kühlschrank.“
Hat sie gerade ‚frische Karotten‘ gesagt? Für mich hat sie noch nie frische Karotten aus dem Kühlschrank geholt. Muss man dafür ein Hase sein, um diese nette Geste genießen zu dürfen? Sie haben doch schon den Ehrenplatz im Atelier bekommen, an dem vorher meine Schneiderpuppe und die Kleiderstange für fertige Kollektionsteile ihren Platz hatten! Aber okay, anscheinend darf ich mich nicht beschweren. Ich bin ja schließlich kein Hase.

Ich drehe mich wieder in Richtung Nähmaschine und versuche mich zu konzentrieren. Oh, Gott! Ich bin noch beim zweiten Kleid für die Modenschau! Und die findet in genau drei Wochen statt. Und mein Flug geht einige Tage vorher. Ich könnte gerade durchdrehen! Ich könnte heulen! Ich pack‘ es nicht! Wie denn auch? Ich muss mich ständig durch Heu und Stroh wühlen, bis ich mein Nähzubehör finde, werde ständig abgelenkt, weil jetzt jeder freien Zugang hat in einen Raum, der vorher als klare Verbotszone galt…
Aber ich bin einfach selbst Schuld! Es war definitiv die falsche Entscheidung, sich Haustiere anzuschaffen, oder die falsche Zeit, zumal es bald Winter ist, sie deshalb drinnen sein müssen, wir bald für längere Zeit verreisen und das Atelier zum Versammlungsraum für Hasen und ihre Liebhaber geworden ist und… „Mama, denkst du den Hasen geht es gut bei uns?“, fragt Nora, „Ich habe Angst, dass sie unglücklich sein könnten. Im Buch steht, sie würden dann schneller sterben! Ich will nicht, dass sie sterben, Mama.“

Ich bin gerade etwas überfordert. Nicht nur mit der Frage, sondern mit der gesamten Situation. Wie konnte Nora die Kaninchen schon so sehr ins Herz geschlossen haben? Nach nicht mal einer Woche? Sie hat Angst sie zu verlieren, während ich den ganzen Tag genervt bin und heimlich immer noch auf einen Wolf hoffe, der den Hasen einen Besuch abstattet. Ich würde ihm natürlich auch den Weg zeigen.
Nora hat Angst. Richtige Angst. Sie streichelt eines der (eigentlich ganz süßen) Häschen, während sie über ihre Gefühle spricht.
Meine Güte! Was sind schon meine (Mode-)Probleme im Vergleich zu ihren Gefühlen? Die Modewelt ist schnell, kalt, mit kurzzeitigen Intervallen. Trends kommen und gehen. Sie erblühen und „sterben“ dann wieder. Aber was ist das schon? Von mir aus könnten gerade alle Trends aussterben und nie wieder kommen!
Ich mache die Nähmaschine aus, schiebe die Stoffe zur Seite, setze mich zu ihr auf den Boden und umarme sie ganz fest. So fest, dass der Hase aus ihrem Schoß hoppelt und auf Wohnungsbesichtigung geht. Linda hoppelt ihm hinterher. Auf allen Vieren natürlich.
„Bist du glücklich?“, frage ich. „Jaaa, wieso?“, möchte  sie von mir wissen. „Für die Hasen bist du die Mama. Und wenn du glücklich bist, sind sie es auch.“ – „Ehrlich?“, fragt sie mit ihren überwältigend funkelnden Kulleraugen. Ich nicke: „Mit dir als Mama wäre ich der glücklichste Hase der Welt! Ich glaube, du brauchst Dir da keine Sorgen machen.“

Comments

comments