Meine lieben Nachbarn

Liebe Nachbarn,

als wir vor etwa 6 Monaten in Eure Gegend gezogen sind, hatte ich ein mulmiges Gefühl. Die Reihenhaussiedlung aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts wirkte auf mich sehr uniform. Dies betraf vor allem ihre Bewohner, die zumeist schon alteingesessen, älter und ohne Kinder waren. Meine Sorge war es, aufzufallen. Denn nicht aufzufallen, obwohl man immer irgendwie auffällt, ist zu einer Art von Lebensdevise geworden. Einerseits war ich sehr erleichtert, so schnell eine Wohnung (ich sag immer noch Wohnung, obwohl ich Haus meine) gefunden zu haben. Es ist für mich immer noch ein Wunder: Wir, mit einem muslimischen (arabischen) Namen, äußerlich auch als Muslime erkennbar (Bart + Kopftuch), Afrikaner und dann noch 3 Kinder…wir wirkten wahrscheinlich nicht auf Anhieb wie die idealen Mieter oder gar Wunschnachbarn. Das habe ich auch gleich gespürt, als ich das erste Mal eine Gruppe von Ihnen vor meiner Tür antraf und Sie höflich fragte, um mich vorzustellen, ob Sie hier wohnen. Sie entgegneten mir nicht „Ja“ oder „Nein“, sondern mit „Warum wollen Sie das wissen?“. Sie haben Ihrerseits wahrscheinlich in dem Augenblick bemerkt, dass eine Änderung auf sie zukommt, als ich erklärte, dass wir die neuen Nachbarn sind.

Mittlerweile haben Sie sich auch schon das ein oder andere Mal über den Lärm der Kinder (tagsüber!) beschwert. Das letzte Mal als mein Sohn freitags nachmittags um 17:00 Uhr einen Spielkameraden zu sich eingeladen hatte und Sie um 17:05 geklingelt haben und meinten, dass sie Besuch haben und es zu laut sei.

Ich hatte das Gefühl, als ob Sie sich fast schämten neben solchen wie „uns“ zu wohnen und der Besuch möglichst nichts davon mitbekommen sollte.

Ein anderes Mal erzählten Sie mir, dass die Nachmieter Ihres Schrebergartens alle Bäume gefällt hätten und wie unmöglich sie das fänden.“Aber das sind ja auch Afghanen!“ fügten Sie als eine Art Erklärung hinzu. Was soll ich von solchen Aussagen halten? Soll es mich glücklich machen, dass ich keine Afghanin bin? Sowas frage ich mich nämlich immer in solchen Momenten, denn derartige Aussagen und Assoziationen scheinen für Leute wie Sie so normal zu sein, dass Sie sich noch nicht einmal zurückhalten, sie vor Menschen wie mir zu machen. Vielleicht denken Sie auch einfach, dass ich zu dumm bin, 1+1 zusammenzuzählen.

Das mit dem Unterschätzen ist auch so eine Sache: Letztens kam die  Nachbarin von gegenüber, sehr freundlich, und hat sich bei uns vorgestellt. Sie wirkte auf angenehme Weise neugierig (aufgeschlossen) und wir plauschten ein bisschen. Meinen Kindern habe ich eingetrichtert, dass sie immer ordentlich grüßen und sich verabschieden sollen. Was sie dazwischen machen wird irgendwann nochmal beigebracht, wenn ich wieder mehr Energie zu weiteren elementaren Erziehungsschritten habe, aber auf die beiden erstgenannten Aspekte bestehe ich (unser mittlerer Sohn ist davon so traumatisiert, dass er alle Menschen, die ihm auf der Straße begegnen ausnahmslos grüßt). Die Nachbarin war sichtlich beeindruckt von diesem Benehmen und überhaupt kam sie aus dem Staunen nicht mehr raus. Ungläubig stellte sie fest, dass wir ja gut deutsch könnten. Ich verwies nochmal darauf, was ich in unserem Gespräch bereits erwähnt hatte, dass wir ja in Deutschland aufgewachsen sind (dass ich mein komplettes Studium im europäischen Ausland absolviert habe wäre an dieser Stelle wahrscheinlich zu verwirrend gewesen, weswegen ich es auch ausließ). Sie wiederholte es mehrmals („Und gar keinen Akzent!“). Ich hatte fast den Eindruck, als ob sie das Gespräch fortführte, um dann doch irgendwann auf einen Akzent oder Grammatikfehler zu stoßen.

Sie könnten uns nämlich als Nachbarn auch so beschreiben: Beide Elternteile berufstätig (beide mit fester Anstellung + eigenes Unternehmen), Absolventen eines Hochschulstudiums (Wirtschaftsinformatik  + Wirtschaftsrecht), Kinder auf einer Privatschule (wie es dazu kam, muss ich nochmal in einem anderen Brief erklären) und in diversen Vereinen angemeldet (zugegebenermaßen teilweise von uns forciert, wie es heutzutage unter Helikoptereltern üblich ist). Wie Sie sicherlich gemerkt haben, backe ich häufig, denn ich habe Ihnen das ein oder andere Mal etwas vorbei gebracht und ich zwinge meinen Mann, regelmäßig Laub vor der Tür zu kehren. Alles in allem kann man uns als echte Spießer bezeichnen.

In Bezug auf die Entwicklungen in Nachbarschaften spricht man häufig von der Ghettoisierung von Stadtvierteln und meint damit die Isolierung einer Bevölkerungsgruppe. Allerdings geht man hier eher von Minderheiten aus. Sie müssen aber zugeben, dass es Ihnen auch ganz Recht ist, wenn wir unter uns bleiben und, da ist das Wort wieder, einfach nicht auffallen. Das Problem aus Ihrer Sicht scheint es mir zu sein, dass die Minderheit zu groß und für Sie sichtbarer wird, ja sogar nebenan einzieht. Dass wir gemeinsame soziale Schnittmengen haben (s.o.) und, wenn man uns nicht nur auf die Herkunft unsrer Eltern reduziert, nicht unbedingt eine Minderheit sind (z.B. Abiturienten) oder sogar in einigen Bereichen eher elitär sind (Privatschule, was meiner Meinung nach aber wieder eine Form von Isolierung ist), spielt in Ihrer Wahrnehmung keine Rolle. Dabei könnten neue Einflüsse der Nachbarschaft wirklich gut tun.

Ich sehe zum Beispiel unheimlich viele Grünflächen in unserer Gegend, die menschenleer sind. Wäre es nicht schön, wenn sich dort die Nachbarschaft treffen würde, Familien unter Bäumen sitzen und picknicken (dass man nicht überall grillen darf, haben wir mittlerweile gelernt) und Kinder Ball spielen? Bei diesem Bild fühle ich mich nämlich an meine Kindheit erinnert. Ich bin in einem Viertel aufgewachsen, dass man Arbeiterviertel nannte. Als es keine Arbeit mehr gab wurden wir zum Ausländerviertel und als die Ausländer nicht mehr wirkliche Ausländer waren, weil sie einen deutschen Pass bekamen, zum Problemviertel. Und ich erinnere mich auch, wie schön es war, wenn wir zu Eid (=Zuckerfest) um die Häuser zogen und bei den Nachbarn klingelten, um Süßigkeiten zu ergattern.

Und neulich klingelte es an unserer Tür: Es waren die Nachbarskinder und es war Halloween.

Ich glaube, die Zeiten ändern sich. Für uns alle!

Freundliche Grüße

Ihre Nachbarin

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