Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schätzt die Anzahl der Kinder und Jugendlichen in Deutschland, die von sexuellem Missbrauch betroffen sind auf rund eine Million. In anderen Worten, ein bis zwei Schulkinder pro Klasse sind den Schätzungen zufolge betroffen. Erschreckend ist auch, dass nur ein kleiner Teil der sexuellen Missbrauchsfälle angezeigt wird. Die meisten Fälle bleiben unausgesprochen.

Kinder im Konflikt – warum so viele schweigen

Im Groben kann man behaupten, dass emanzipierte Kinder, die aufgeklärt sind und ihre Rechte kennen, sich geliebt fühlen und selbstbewusst sind, seltener zum Opfer fallen als solche, die eine besonders ängstliche, unsichere oder übertrieben gehorsame Persönlichkeit zur Schau stellen. Täter*innen nehmen oftmals eine helfende, freundschaftliche Rolle an, indem sie dem Kind viel Aufmerksamkeit, Lob und Zuwendung schenken. Die meisten Missbrauchsfälle sind keine Triebtaten, sondern fangen eher schrittweise an, indem Täter*innen „versehentlich“ über die Brust des Kindes streifen oder in dessen Gegenwart über Sex sprechen. Häufig werden Kinder mit Horrorszenarien wie „Wenn du etwas verrätst, dann trennen sich deine Eltern“ oder „Keiner wird dir glauben“ manipuliert. Dies bringt Kinder in einen ausweglos erscheinenden Konflikt zwischen ihrem eigenen Wohlbefinden und dem ihrer Familie. Auch wenn wir nicht alles in ihrem Leben und ihrem Umfeld kontrollieren können, ist es möglich Kinder dahingehend zu stärken, dass sie sich nicht manipulieren und unter Druck setzen lassen.

Empfehlungen für den Erziehungsalltag

Die folgenden Erziehungstipps werden in präventiven Programmen gegen sexuellen Kindesmissbrauch am häufigsten kommuniziert und sollen dabei helfen, emanzipierte und selbstbewusste Kinder zu erziehen.

1. Stärke ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung

Ein Kind muss wissen, dass sein Körper nur ihm gehört und er selbst bestimmen kann, wann und wer es wie anfassen darf. Am häufigsten wird dieses Recht verletzt, wenn das Kind jemanden nicht umarmen möchte. Wenn das Kind es dann aus Schuldgefühlen heraus doch noch tut, lernt es die Bedürfnisse des Erwachsenen über die eigenen zu stellen – und das wollen wir nicht! Eltern sollten in diesen Situationen zu ihrem Kind stehen, denn eine freundliche Begrüßung kann auch mit einem Winken oder einem High Five stattfinden. Es soll auch lernen zwischen guten und schlechten Berührungen zu unterscheiden. Es gibt Nähe, die sich gut anfühlt und Nähe, die sich schlecht anfühlt. Das Kind allein entscheidet darüber, was angenehm ist. Auch das Anklopfen an der Schlafzimmertür oder die Privatsphäre im Badezimmer sind Dinge, die man von klein auf etablieren sollte. So lernt das Kind, dass auch Erwachsene es nicht einfach nackt sehen dürfen.

2. Stärke ihr Recht „Nein“ zu sagen

Das wehrloseste Kind ist wohl das marionettenhafte Kind, das immer gehorcht. Es sollte erlaubt sein mit den Eltern zu diskutieren und für die eigenen Interessen einzustehen, ohne dass die Beziehung zu den Eltern gleich gefährdet ist. Liebesentzug nach einem Interessenkonflikt führt zur Annahme, dass man sich Liebe mit Gehorsamkeit verdient. Gleichzeitig sollte sich das Kind auch nicht schuldig fühlen, wenn es mal versäumt für die eigenen Interessen einzustehen. Ermutigt euer Kind mit solchen Erlebnissen zu euch zu kommen. Das was passiert ist, ist passiert, aber es ist nie zu spät um darüber zu sprechen. Ebenso wichtig ist es natürlich, dass Kinder auch das Nein anderer akzeptieren lernen.

3. Erkläre ihnen den Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen

Eltern sollten ihrem Kind beibringen, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt. Das Kind entscheidet dabei selbst, ob sich ein Geheimnis gut oder schlecht anfühlt. Schlechte Geheimnisse sind solche, die sich unangenehm, beängstigend oder mulmig anfühlen. Schlechte Geheimnisse sollte es einem Erwachsenen seiner Wahl erzählen, auch wenn es zuvor versprochen hatte das nicht zu tun. Versichert Ihnen, dass sie dadurch weder zu einer Petze noch zu einem bösen Menschen werden. Natürlich möchten Eltern gerne, dass ihr Kind in Notlagen zu ihnen kommt, aber besonders in Sachen Missbrauch trauen sich Kinder oftmals nicht mit ihren eigenen Eltern darüber zu sprechen. Deshalb sollten Eltern ihre Kinder dazu ermutigen, auch anderen Bezugspersonen Geheimnisse anvertrauen zu können oder sie um Hilfe zu bitten. Wenn ein Erwachsener ihnen keine Hilfe war, dann darf das Kind weiter Hilfe suchen, bis ihm geholfen ist.

4. Erkläre, dass auch Erwachsene Fehler machen

Kinder sollten Erwachsene nicht für allwissend und perfekt halten. Im Gegenteil, Eltern sollten ihren Kindern beibringen, dass auch Erwachsene Fehler machen können. Sie sollten wissen, dass auch Erwachsene nicht alles dürfen. Zum Beispiel dürfen sie nicht einfach Gewalt anwenden oder Kindern Angst einflößen. Sie sollten auch wissen, dass manche Erwachsene Ihnen sogar falsche Regeln vormogeln.

5. Nehme ihre Gefühle und Intuition ernst

Bringe deinem Kind bei, dass es seinen Gefühlen und seiner Intuition vertrauen kann. Wenn ihm etwas komisch, unangenehm oder beängstigend vorkommt, dann ist das wichtig dies auch ernstzunehmen. Es braucht keine Bestätigung von einem Erwachsenen. Zeig Interesse an den Gefühlen deines Kindes. Wenn dein Kind zum Beispiel sagt, dass es die Nachbarin nicht mag, dann erwidere die Aussage nicht mit einem: „Nein, Quatsch! Unsere Nachbarin so eine liebe Person.“ Uneinigkeiten können gute Möglichkeiten zum gemeinsamen Explorieren bieten. Zum Beispiel kannst du fragen, warum das Kind denkt, die Nachbarin sei fies und ihm sagen, dass du bei der nächsten Begegnung auf die von ihm eingebrachten Punkte genauer achten wirst.

6. Kümmere dich um ihre Sexualerziehung

Wenn es um die Sexualerziehung unserer Kinder geht, dann haben die meisten Eltern ihre eigenen Vorstellungen davon, was sie für angemessen halten. Es ist kaum möglich einen Aufklärungsstandard für alle festzuschreiben. Wichtig zu wissen ist aber, dass die Aufklärung an sich Kinder nicht übermäßig sexualisieren wird, denn das tun Werbungen, Filme und allgemein Medien ohnehin schon. Gerade deshalb ist es wichtig die Sexualerziehung selbst in die Hand zu nehmen. Täter*innen nutzen häufig mangelnde Aufklärung aus und flößen Kindern ihre eigenen manipulativen Ideen ein. Also darf die sexuelle Aufklärung kein einmaliges Thema sein, sondern muss immer wieder – altersentsprechend – thematisiert und aktualisiert werden. Begegne den Fragen deines Kindes offen und gebe ihm Antworten, die seine Neugier stillen.

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Nützliche Links

Hast du das Gefühl, jemand in deinem Umfeld ist betroffen? Oder möchtest du einfach mehr Informationen zu diesem Thema haben?

Umfangreichere Informationen zu diesem Thema gibt es auf der Seite des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Missbrauchs
https://beauftragter-missbrauch.de

Das Hilfetelefon für sexuellen Missbrauch kann als erste Anlaufstelle dienen
0800-22 55 530 (kostenfrei und anonym)

Im Hilfeportal für sexuellen Missbrauch können Beratungsstellen und Therapeut*innen vor Ort oder Online Beratungsangebote gesucht werden.
https://www.hilfeportal-missbrauch.de/startseite.html

Foto: Unsplash

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