Angst und Sorge: ein Fall von mangelndem Gottvertrauen?

Vielleicht kennst du es auch: Du hast schwerwiegende Zukunftssorgen und alle raten dir, Gott mehr Vertrauen zu schenken. Keiner versteht, wie deine Angst parallel zu deinem Glauben existieren kann und vielleicht verstehst du es nicht einmal selbst. Oder du bist vielleicht eine von denen, die Personen in Sorge empfehlen, ihren Glauben zu stärken. So einfach und einleuchtend es auch für einige Menschen sein mag, für andere ist Angst eine weitaus kompliziertere Sache. Einerseits tief in unseren Überlebensinstinkten verankert und andererseits auch von Erfahrungen geprägt.

Das Spektrum der Angst kann von kurzfristiger Nachdenklichkeit bis hin zu chronischen Sorgen übergehen, welche einem Schlaf und Verstand rauben. Auf dem schwerwiegenderen Ende des Spektrums lässt es sich kaum alltäglichen Tätigkeiten nachgehen. Wenn dies der Fall ist, spricht man von einer Angststörung. Im Jahr 2014 litten 15,3 % Menschen in Deutschland an einer Form der Angststörung. Sie ist die häufigste psychische Erkrankung in Deutschland und insbesondere Frauen sind davon betroffen. Aber auch Menschen ohne solch eine Diagnose können unter übertriebenen Ängsten und Sorgen leiden.

Versuchen wir erst einmal die Frage zu klären, warum sich einige Menschen mehr sorgen als andere.

Warum sorgen sich manche Menschen mehr als andere?

Genetische Faktoren scheinen zwar laut Forschung eine wichtige Rolle zu spielen. Doch es ist unklar, ob tatsächlich die Genetik der Grund sei oder einfach die Tatsache, dass in der Erziehung auch Denkmuster an Kinder weitergegeben werden. Ob unbewusst oder absichtlich, Kinder lernen ihre Umwelt zu deuten und ihre Bezugspersonen dienen als Informationsquelle. Sei es der Vater, der ständig aufspringt, wenn das Kind irgendwo rauf klettern möchte oder die Mutter, die sich ständig Sorgen macht, dass ihr Kind die Prüfung nicht besteht. Diese Gedankenstrukturen beeinflussen Kinder und sie lernen, dass eine bevorstehende Herausforderung eher Grund zur Sorge ist, statt Grund zur Freude. Zum Beispiel erhöht die ein Elternteil mit einer Angststörung das Risiko des Kindes ebenfalls eine Angststörung zu entwickeln.

Neurowissenschaftliche Studien zeigen, dass bei Menschen mit Angststörungen jene Bereiche im Gehirn, die für die Verarbeitung negativer Gefühle verantwortlich sind, eine erhöhte Aktivität aufweisen und einige emotionsregulierende Prozesse gehemmt sind. In anderen Worten: Das Gehirn von Menschen mit Angststörungen verarbeitet negative Gefühle intensiver und gleichzeitig arbeitet das System, welches Emotionen unter Kontrolle hält, nicht ganz so fleißig wie bei anderen. Auch wenn die Entstehungsfrage noch nicht eindeutig geklärt werden kann, ist eines sicher: Angst ist nicht nur etwas, dass sich in unseren bewussten Gedanken abspielt, sondern auch in der Art und Weise, wie unser Gehirn Informationen verarbeitet.

An dieser Stelle sollten wir nochmal überdenken, ob der Ratschlag „Stärke deinen Iman“ wirklich ausreichend ist, um jemanden von seinen Ängsten zu befreien. Spoiler: Für kleine Sorgen vielleicht, für tiefgreifende aber nicht.

Können wir nicht trotzdem Zuflucht in unserem Glauben suchen?

Jein. Der Glaube wird von vielen Muslimen immer noch als Allheilmittel für psychische Störungen oder auch schwerwiegende Belastungen eingebracht. Natürlich kann unser Glaube als wertvolle Ressource dienen, jedoch nicht als einzige. Wie oben bereits berichtet, arbeiten Gehirne tatsächlich unterschiedlich. Menschen, die nur in ihrem Glauben nach einer Lösung für übermäßige Ängste und Sorgen suchen, gehen die Gefahr ein, nie an den eigentlichen Auslösern und aufrechterhaltenden Faktoren zu suchen. So verbleiben sie in ihren negativen Denkmustern und gehen die Gefahr ein, nie mehr aus den Sorgen herauszukommen.

Wer kennt die Geschichte* vom Mann, der am Ertrinken war und jeden, der ihm zur Hilfe kam, wieder wegschickte, weil er von Gott gerettet werden wollte? Er starb schließlich und fragte Gott, warum er ihm nicht zur Hilfe kam, wo er doch solch ein guter Diener gewesen war. Gott antwortete ihm, dass er ihm mehrmals Hilfe schickte, aber er jeden von seinen entsendeten Helfern wieder weggeschickt habe. Auch eine psychologische Unterstützung (wie z.B. in einer Beratungsstelle) kann als eine solche Hilfe gesehen werden, wenn wir bedenken, dass alles von Gott kommt.

Und welcher Aspekt unseres Glaubens dient nun als Ressource?

Die Gemeinschaft, die der Islam empfiehlt und bietet, ist eine mögliche Quelle für Zugehörigkeitsgefühl, Unterstützung und Anteilnahme. Bestimmte Verhaltensanweisungen, wie die Pflichtgebete oder Alkoholabstinenz, tragen ebenfalls zu einer gesünderen Lebensweise bei. In religiösen Überlieferungen erfahren wir über das Leid wichtiger Persönlichkeiten und nehmen uns diese als Vorbilder. Die Leidenden haben eine besondere Stellung. Der Glaube, dass jedes Leid auch etwas Gutes in sich birgt und Gott uns keiner Prüfung unterzieht, der wir nicht gewachsen sind, können uns dabei helfen, Situationen zu akzeptieren und Kraft aus ihnen zu schöpfen. Auch der Glaube an Belohnung für Verzicht, soziales Engagement und Demut helfen dabei, dem Druck der Welt in Bezug auf Erfolg, Macht und Reichtum standzuhalten. All diese Dinge können laut Forschung zu einer gesünderen Psyche beitragen, schützen aber nicht zwingend vor der Entwicklung psychischer Erkrankungen oder negativer Denkmuster.

Es gibt sogar bestimmte Umstände, in denen sich der Glaube negativ auf die psychische Gesundheit auswirken kann. Dies kann man bei Menschen beobachten, denen von klein auf ein überwiegend strafender Gott, vor dem man sich zu fürchten hat, vermittelt wurde. Ihre Beziehung zu Gott ist oft von Schuldgefühlen und Angst geprägt. Sie verlassen sich weniger auf die verzeihenden und großzügigen Eigenschaften Gottes. Besonders religiöse Menschen, die solch eine Beziehung zu Gott pflegen, leiden unter Symptomen der Angststörung oder Depression. Sie fokussieren sich mehr auf mögliche negative Folgen der eigenen schlechten Handlungen, als auf die positiven Folgen der guten.

Wie kann ich jemandem mit schwerwiegenden Ängsten und Sorgen begegnen?

Weniger hilfreich und sogar kontraproduktiv sind Bemerkungen über fehlendes Gottvertrauen, Charakterschwäche oder andere, denen es doch viel schlechter geht. Wer sich selbst und den Menschen in seinem Umfeld Gutes tun will, sollte die psychische Gesundheit ernst nehmen. Er sollte jene, denen es schwerfällt alles positiv zu sehen, nicht stigmatisieren. Ermutigt diese Personen dazu, eine psychologische Unterstützung aufzusuchen, um über ihre Denkmuster zu reflektieren und an ihnen zu arbeiten. Auch wenn ihr nicht so denkt und fühlt wie sie, zeigt Verständnis dafür, dass jeder Mensch andere Voraussetzungen und Erfahrungen mitbringt und somit auch einen anderen Umgang mit negativen Gedanken und Gefühlen pflegt.

*Quelle: anonym
Foto: Unsplash

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