Gedanken einer muslimischen Psychologin: Glauben verloren?

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Viele junge Muslime, meist in der 2. oder 3. Generation im Westen, aber auch in muslimischen Ländern, empfinden den Islam als Bürde und nicht mehr als Leit- und Schutzgerüst fürs Leben. Also suchen sie sich einen Therapeuten/Therapeutin, der/die ihre Ängste und Sorgen nicht nur versteht, sondern selbst einen ähnlichen Background hat. Oft werde ich gefragt, was Religion für einen Stellenwert haben sollte.

Und da jeder Mensch diese Frage für sich selbst beantworten sollte und auch muss, halte ich mich in Sitzungen mit meiner Meinung zurück. Nichtsdestotrotz ließ mich diese Fragestellung in den letzten Wochen und Monaten nicht mehr los. Wer bin ich ohne meine Religion? Ist meine Religion mehr als mein moralischer Kompass? Und die gefährliche Frage: Bin ich tatsächlich weniger Mensch, wenn ich mich von der Religion entferne?

Letzteres beantworte ich vorab mit einem klaren NEIN, aber..

Unabhängig von der Art des Glaubens: Glaube gibt Menschen Hoffnung und ein Ventil, mit den Geschehnissen in der Welt umzugehen. Oft ist es aber so, dass Eltern Schwierigkeiten haben, den Stellenwert der Religion richtig in die Erziehung ihrer Kinder zu integrieren. Religion, oder in unserem Fall der Islam, wird nicht mit Toleranz und Liebe weitergegeben, sondern basierend auf Angst gelehrt.

Wer hat „Wenn du dies oder das machst, dann wird Allah [füge Strafe hinzu]“ nicht schon mal von seinen Eltern gehört? Diese falsche und veraltete Art der Kindererziehung ist nicht nur negativ, sondern auch falsch. Wen wundert es dann, wenn Kinder zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen heranwachsen, die den Islam als beengend oder gar als Gefängnis betrachten? Alles, was sie kennen, verbinden sie mit Strafen und Verboten.

Dieses Thema verdient einen alleinstehenden Artikel. Was falsche Erziehung mit der Kinderpsyche machen kann ist sehr komplex. Wenige Sätze reichen dabei nicht aus, um darauf einzugehen.

Dieser Text widmet sich den jungen Erwachsenen, die sich nicht mehr trauen, die richtigen Fragen zu stellen, weil ihre Erfahrungswerte davon abraten.

Was macht der Glaube im psychologischen Sinne?

Ist die Psychologie gegen Religion? Meine persönliche Antwort darauf ist: Nein. Psychologie ist jedoch eine empirische Wissenschaft und die Religion hat was das betrifft große Probleme. Experimente, die für diese Art von Wissenschaft wichtig sind, lassen sich nur sehr schwer durchführen. Eins ist trotzdem klar: An irgendwas glauben alle. Wer aber glaubt, der Mensch komme ohne Glauben aus, der glaubt eben genau das.

Und ehe ich an dieser Stelle an wissenschaftlichen Konzepten festhalten will, gehe ich lieber auf eine persönliche These ein, die ich ohne Experiment zwar nicht beweisen kann, an die ich dennoch aufrichtig glaube. Jeder Mensch schleppt eine Art Leere mit sich herum und versucht, diese zu füllen. Meiner Ansicht nach wird diese Leere nur dann effektiv gefüllt, wenn man glaubt. Wenn man es nicht schafft, wird man dadurch nicht automatisch zu einem schlechten Menschen. Aber es entsteht ein Leidensdruck und Menschen machen unter Leidensdruck oft schlechte Dinge.

Durch viele Sitzungen mit Klienten habe ich für mich den Schluß gefasst, dass jeder auf der Suche ist, quasi auf der Suche nach einem Allheilmittel, das diese Leere füllt. Ich gehe einen Schritt weiter, ganz zum Entsetzen vieler meiner Kollegen an dieser Stelle, und behaupte, dass jeder Mensch bedingungslose Liebe sucht und auch braucht. Bekommt man diese nicht, entsteht ein Ungleichgewicht und man versucht, dieses z.B mit Likes auf Social Media zu kompensieren. Dass das nach hinten losgeht, brauche ich an dieser Stelle niemanden zu erklären. Häufig ist es aber auch so, dass Menschen dadurch abhängig von ihrer Umwelt werden. Mit anderen Worten: Wir hängen uns an Menschen (und leiden unter ihren Launen und Fehlern), an Materialismus oder erkranken (z.b an Alkoholismus oder Drogenkonsum – und das ist auch in der muslimischen Community keine Seltenheit.)

Sind Menschen schlechter, weil sie keiner Religion angehören? 

Auf diese Frage bin ich zu Anfang schon ein wenig eingegangen. Und es wäre fatal zu glauben, dass es so sei. Der ägyptische Scheich Mohamed Abdo sagte, als er nach seinen Europabesuchen zurückkehrte:

Ich sah in Europa den Islam ohne Muslime und in den muslimischen Ländern, Muslime ohne Islam.

Dieses Zitat wird von Menschen im Nahen Osten immer noch oft genutzt. Was bedeutet es also genau?

Gemeint wird damit, dass westliche Staaten eine Ordnung, Genauigkeit, Pünktlichkeit und Sauberkeit etabliert haben, die Bestandteil vom Islam sind und von jedem Muslim erwartet werden sollten. In der Realität sieht das jedoch anders aus. Viele junge Muslime bewerten den Islam aufgrund ihrer Umgebung. Aber das Zitat deutet es an, Muslime sind fehlbar, der Islam jedoch nicht. Dieses Konzept zu verstehen und es auch zu glauben, erfordert Zeit und eigene Mühen. Denn um das falsche Bild zu widerlegen, muss man sich selber auf Wissenssuche begeben.

Erst, wenn man sich selbst ein Bild über den Islam verschafft hat, kann man über diese Religion urteilen. Es reicht nicht, die Religion aufgrund ihre Anhänger zu bewerten. Denn, so wie bei allen Menschengemeinschaften, gibt es auch unter Muslimen gute und weniger gute – manchmal sehr schlechte – Vertreter der Religion.

Ja, die Wissenssuche ist nicht einfach, aber im Zeitalter der digitalen Medien ist das Wissen zumindest zugänglicher geworden. Lange Jahre ist es her, dass sogar (oder gerade) ich mich auf diese Suche begeben musste. Was dabei geholfen hat, waren tatsächlich Gelehrte aus Amerika. Im deutschsprachigen Raum gibt es nur wenige, denen ich persönlich mein Ohr leihen konnte, aber das muss jeder für sich selbst entscheiden.

Ramadan ist nur wenige Tage entfernt. Und ich stelle jedem Zweifler folgende Aufgabe. Selbst, wenn Du es im Ramadan nicht schaffen solltest alles richtig zu machen, mach es dir wenigstens zum Ziel, einige wenige Aspekte über den Islam zu lernen. Ich kann – fast – versprechen, dass dadurch die Neugier geweckt wird…

Möge Ramadan jedem Suchenden die oben genannte Leere füllen. Denn wer Allah sucht, wird Allah finden. [:]

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